1.2 Bleibt nur die Küche übrig…

An der Bushaltestelle: Es fallen Worte wie Polizei, Rasterfahndung, Hunde. Anemone versucht, einfach nur ruhig zu atmen. Unvorstellbar: Tommy, ihr süßer, braungelockter Fünfjähriger, mit seinen Strahleaugen und dem frechen Grinsen, weg? Entführt, misshandelt, ermordet? Was soll sie jetzt tun?

Eine ältere Frau mit vielen bunten Kleidungsschichten übereinander löst sich aus der Menschenmenge an der Bushaltestelle heraus und kommt auf Anemone zu: „Frrau. Die Kind ist gut. Alles GUT. Isch waiss.“ Dann dreht sie sich zu der kleinen unruhigen Menge, breitet die Arme aus und verkündet: „Looite! Nix mehr von schlimme Ding rreden. Das nicht helfen!“ Anemone würde das lustig finden, wäre sie nicht außer sich von Angst. Dennoch, trotz des starken fremdländischen  Akzentes oder vielleicht gerade deswegen, strahlt das Zuversicht aus. Als hätte die alte Frau irgendwelche seherischen Kräfte, oder die übernatürliche Kraft, Tommy direkt und auf der Stelle hier unversehrt erscheinen zu lassen. Doch unsere osteuropäische Prophetin scheint eher pragmatisch veranlagt zu sein. Sie steckt zwei Finger in den Mund und pfeift ein Taxi vorbei: „Frrrau. Fahren zu Kinderrgarrten. Finden Kind.“
Anemone leuchtet das ein. Sie holt Luft, nickt und steigt mit ihrem dicken, schwangeren Bauch schwerfällig ein. Die alte bunte Frau knallt die Autotür zu und brüllt dabei noch mal: „Alles GUT.“ Im Taxi dudelt orientalische Musik. Anemone stammelt die Adresse der KiTa und der Fahrer setzt sein Gefährt in Bewegung.

Die ganze Fahrt ist unwirklich für Anemone. Völlig aufgelöst murmelt sie vor sich hin: „Lieber Gott, lass mit Tommy nichts sein… Bitte lieber Gott, lass das alles nur ein Missverständnis sein…“ Sie überlegt kurz: „Lieber Gott, ich glaube nicht mal, dass es dich gibt. Aber wenn es dich gibt, ist das jetzt deine Gelegenheit, es zu beweisen.“ Der Taxifahrer checkt die Situation nicht in Gänze, gibt aber zu bedenken, dass der Allah stets ganz besonders Menschen wohlwollend berücksichtigen würde, die großzügig im Leben seien.

Vor der KiTa angekommen, drückt Anemone dem Fahrer dementsprechend großzügig einen Zwanziger in die Hand. Gott, Allah und was auch immer da oben, die sollen sich mal gefälligst zusammentun und Tommy auftreiben, denkt sie dabei. Sie quält sich wieder aus dem Auto heraus und watschelt schnellen Schrittes in die KiTa hinein, vorbei an einer kleinen Elterngruppe, die sie voller Freude erkennt und am liebsten mit ihr kurz plaudern würde. Anemone hechtet die Treppe rauf in die erste Etage, wo sie schon bereits am Ende des Ganges Zack und Nadine sieht, wie sie gerade aus einem Gruppenraum rauskommen: „Hier ist er auch nicht.“ Ohne große Begrüßung kommt Anemone auf den Punkt: „Wo habt ihr alles schon gesucht?“ Nadine zählt pflichtbewusst alle Räume der Einrichtung aus, und fügt hinzu: „Bleibt nur noch die Küche übrig, aber die ist seit 14:00 zu, und Tommy war ganz sicher im Töpferkreis bis 16:00. Erst danach wurde er nicht mehr gesehen!“ Anemone beschließt: „Wir checken auch die Küche. Dann alarmieren wir die Polizei.“ „Schon geschehen“, meint Zack mit flacher Stimme, „sie müssten jede Minute hier sein.“

Zusammen eilen die drei runter zur Küche, Nadine gibt den Code ein und die Türe öffnet sich breit. Und nun ist jetzt genau der Moment da, der für alle Erziehungsberechtigten in der Welt eine der schwersten Entscheidungen darstellt: Sollen sie nun ob in Jubel ausbrechen und sich alle in die Arme fallen oder einfach nur noch eine fürchterliche Schimpftirade loslassen?

In einem Meer von Schaum, das sich über die große Spüle und dem gesamten Boden erstreckt, steht ein klatschnasser Tommy in triefenden Klamotten und dirigiert bunte Tupperdosen und Plastikbecher. „Mutige Piraten-Flotte, fertig machen zur Wende!“ ruft er noch quietschvergnügt, bevor er seine Eltern und Nadine … und weiter hinten einige Männer in Polizeiuniform sieht…

Kind_verschwunden_Polizei


Was soll nun mit Tommy passieren? Was meint ihr? Und wie war er überhaupt in die geschlossene Küche gekommen? 

Nachtrag: Als Zack die Polizisten sieht, flüstert er Anemone ins Ohr: „Ich muss ganz dringend telefonieren. Du klärst das hier schon…“ Er tapst er ihr auf die Schulter und zieht ab. Anemone ist sehr verwirrt. Wäre das nicht dem Moment, wo sie zusammen die Situation meistern müssten? Was ist da los?

2 thoughts on “1.2 Bleibt nur die Küche übrig…

  1. Simone

    Ersteinmal wird Tommy trocken gelegt, ein ernstes Wörtchen mit Ihm gesprochen und dann soll er mal schön erzählen wie er in die Küche gekommen ist!

    Da er der Sohn der Leiterin ist, wusste er natürlich ganz genau in welcher Schublade Mama´s Süßigkeiten in Ihrem Schreibtisch versteckt sind. Da aber keine da waren, sondern nur der Ersatzschlüssel für die Küche, und er doch soooooooooooo Hunger hatte, wollte er nur mal kurz an die Kühlschränke!

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  2. Katarina

    Tommys Vater ist eingefallen das er vorhin kurz mit der Praktikantin etwas wirklich wichtiges in der Küche besprochen hat, da muss sich Tommy mit reingeschlichen haben (unbemerkt) und mitten in der Unterhaltung hat das stationäre Telefon im Büro der Kita Leitung geklingelt, die Praktikantin rannte raus um zu antworten und Tommys Vater zog die Tür hinter sich zu um endlich den drölfzig SMS zu antworten die seine Frau schon hinterlassen hatte.

    Man, da hat MANN einmal 2 Monate Elternzeit und schon glaubt die Frau das man das nicht alleine wippen kann…. da klingelt das Telefon: Annemone brüllt hysterisch was von Kindergarten und Tommy in sein Ohr.

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